„Besser spät als nie!“, haben wir uns gedacht, und so beginnt nun endlich der traditionelle indiestreber-Jahresrückblick. Im vergangenen Jahr haben wir euch, werte Leser, so einiges beigebracht. Jetzt ist es an der Zeit, das musikalische Jahr 2010 Revue passieren zu lassen und den Klassenbesten die wohlverdiente Ehre zukommen zu lassen.
Entdeckung des Jahres:
Mash-Ups sind sowas von 2004? Mag sein, aber Gregg Gillis aka Girl Talk legt noch mal eine gehörige Schippe drauf: Samples aus 372 Songs von den 60ern bis heute verbrät er im Laufe seines 71-minütigen Mega-Mash-Up-Albums „All Day“, das hier zum kostenlosen legalen Download bereitsteht. Da bleibt kein Stein auf dem anderen, aber alles ist so liebevoll zusammengebastelt, dass es einfach perfekt passt und nie langweilig wird. Ihr wolltet schon immer mal zu den Beastie Boys, Iggy Pop und Lady Gaga gleichzeitig Party machen? Dann ist das eure Chance!
Girl Talk – Jump On Stage
Konzerte des Jahres:
Wenn ich richtig gezählt habe, war ich im Jahr 2010 auf 34 einzelnen Konzerten und sechs Festivals. Das dürfte mit Abstand mein bisheriger Rekord sein. Da fällt die Auswahl der absoluten Highlights natürlich ziemlich schwer, aber ich versuche mal, eine Top 5 aufzustellen:
1. Japandroids @ Hafen2 Offenbach, 12.2.10
2. Slayer @ Schlachthof Wiesbaden, 5.7.10
3. Jeans Team @ PopUp Leipzig, 7.5.10
4. HEALTH @ Phono Pop Rüsselsheim, 9.7.10
5. Crystal Castles @ Lucerna Music Bar Prag, 14.11.10
Zweimal Noise, zweimal Elektro, einmal Metal – sieht ganz so aus, als würden live gerade die extremen Spielarten am besten funktionieren.
Wenn es um das Festival des Jahres geht, müsste ich mich zwischen dem kleinen aber äußerst feinen Phono Pop und dem imposanten Melt! entscheiden. Da man diese beiden Events aber unmöglich miteinander vergleichen kann, müssen sie sich den Platz ganz oben auf dem Treppchen eben teilen.
Alben des Jahres:
Kommen wir nun zur prestigeträchtigen Kategorie der besten Platten der vergangenen zwölf Monate:
10. The Soft Pack – The Soft Pack
Wenn es etwas gibt, was einfach nicht alt wird, dann ist das wohl jugendlich ungestümer Rock’n’Roll. Und wenn dann – wie im Falle des Debütalbums von The Soft Pack – noch Harmonien dazukommen, auf die auch die Beach Boys stolz wären, ist das kurzweilige Musikvergnügen perfekt.
9. No Age – Everything In Between
Nein, an der Anlage ist nichts kaputt, das soll wirklich so klingen: No Age machen lupenreinen und doch irgendwie verdreckten Noise Pop. Ihr Drittwerk „Everything In Between“ ist verträumt, mitreißend, sehnsuchtsvoll, charmant und mindestens genauso verkrumpelt wie der Zettel auf dem dazugehörigen Cover.
8. The Unwinding Hours – The Unwinding Hours
Wenn man böswillig wäre, könnte man sagen, dass mit dem Debüt von The Unwinding Hours der Post-Rock endgültig im Mainstream angekommen ist. Atmosphärische Gitarrenwände, langsame Steigerungen und Laut-Leise-Kontraste werden hier mit zartem Gesang verquickt und die Songs auf normale Länge heruntergebrochen. Verrat an der Avantgarde? Ach was. Und überhaupt: Wer wollte bei solch schönen Klängen schon böswillig sein?
7. Blood Red Shoes – Fire Like This
Mit „Fire Like This“ ist es Blood Red Shoes gelungen, ein Album aufzunehmen, das alle ihre Stärken bündelt und voll ist mit krachigen Hymen, zu denen man sich auch noch ausgesprochen gut bewegen kann. Auf den ersten Blick wirkt das beinahe zu formelhaft, aber zum Glück ist da ja noch die Leidenschaft des Boy-Girl-Duos, die jegliche Stagnationsvorwürfe im Keim ersticken dürfte. Sieht ganz so aus, als würde das Feuer der beiden auch in Zukunft weiterbrennen.
6. Gisbert zu Knyphausen – Hurra! Hurra! So Nicht.
Auch wenn einige meinen, das zweite Album von Gisbert zu Knyphausen könne nicht mit seinem Debüt mithalten – ich würde dem widersprechen. Man muss die Songs auf „Hurra! Hurra! So Nicht.“ allerdings zunächst einmal in sein Leben lassen, sie kennenlernen wie Kollegen und Kommilitonen, die schließlich zu Freunden werden, auf die man nicht mehr verzichten will. Dann wird auch diese Platte zum treuen Begleiter und Helfer durch den Alltag. Nichtsdestotrotz muss das Wunderkind Gisbert in diesem Jahr den deutschsprachigen Singer/Songwriter-Thron räumen…
5. Hans Unstern – Kratz Dich Raus
…und zwar für das Waldschrat-Lookalike Hans Unstern. Der Name ist ein Pseudonym, und hinter dem und dessen Bart verbergen sich widerspenstige Abgesänge auf das heutige Leben. Hans Unstern ist nicht der nette Märchenonkel, der dir auf seiner Klampfe Gutenachtlieder vorspielt. Eher Alptraumlieder. Noise trifft auf Kammermusik, atonale Klavierbegleitung auf intelligente und bissig vorgetragene deutsche Texte. Dennoch siegt am Ende dann doch meist die Melodie. „Kratz Dich Raus“ zeigt, wie viel Literatur in Musik passen kann, ohne dass es oberstudienratmäßig wird.
4. Tending To Huey – Beteigeuze
Es ist für mich wirklich schwierig zu begreifen: Erstens, dass eine Band aus dem Nichts1 auftaucht und als Debüt gleich so ein fantastisches Album vorlegt. Und zweitens, dass niemand so richtig davon Notiz nimmt und Tending To Huey noch immer keinen Plattenvertrag in der Tasche haben. Eine Ungerechtigkeit, die so schnell wie möglich behoben gehört. Derweil vertreibe man sich die Zeit am besten mit „Beteigeuze“, diesem absolut runden Werk voller Leichtigkeit und Experimentierfreude, auf dem die musikalischen Ideen wie Puzzleteile ineinandergreifen. (Längere Rezension)
3. Trip Fontaine – Lambada
Man muss sie einfach lieben, diese Rotzlöffel aus Rodgau. Ganz unbekümmert schreiben sie Songs, die von holländischem Gebäck, Pullovern, ausrangierten Fußballern, Eurodance-Helden, russischen Literaten und französischen Philosophen handeln, und natürlich können Trip Fontaine auch auf dem Promozettel zu ihrem Album nicht so ganz ernst bleiben. Müssen und sollen sie aber auch gar nicht, wozu denn. Sie wissen ja sowieso Bescheid: „It looks kind of random, but it’s straight to the point“. Und genau deshalb ist „Lambada“ so großartig geworden. (Längere Rezension)
2. The National – High Violet
Schwer zu sagen, was diese Band eigentlich anders macht als all die anderen Indierock-Bands, denen sie um Längen voraus ist. Ist es das Schlagzeug, das sich nie zu sehr in den Vordergrund drängt, doch den Songs immer das gibt, was sie brauchen? Die Gitarren, die stets ein Tick zu verhallt sind um in Richtung Coldplay-Kitsch abzudriften? Die sonore Stimme, die zu abgeklärt und introvertiert klingt für den nächsten kurzfristigen Hype? Die Texte, die immer ein Stück zu abstrakt bleiben, um sie auf irgendetwas festzunageln? Ich weiß es nicht genau. Aber eines weiß ich: Diese Platte sollte man gehört haben!
1. Tubelord – Our First American Friends
Diese Platte ist und bleibt eine kunterbunte Wundertüte und verliert auch nach zigmaligem Hören nichts von ihrer Frische und Unbekümmertheit. Die einzelnen Zutaten dieser wilden Mixtur aufzuzählen erscheint ziemlich sinnlos, schließlich werfen Tubelord einfach alles in den Topf, was sie zu greifen bekommen. Dass das Ergebnis dennoch genau passt, ist deshalb umso erstaunlicher. Um mich einmal selbst zu zitieren: In einer ausführlicheren Rezension habe ich Tubelord bereits bescheinigt, „Musik für das neue Jahrzehnt“ zu fabrizieren. Wenn sich das bewahrheitet, dann kann man sich auf die kommenden Jahre nur freuen. Und die Tage, in denen die Band als Geheimtip durchgeht, sind hoffentlich bald vorbei.
Songs des Jahres:
Diese nun in umgekehrter Reihenfolge, also vom ersten Platz runter bis zum zehnten.
1. Japandroids – Younger Us
Meine Abräumer des Jahres 2009 ließen mich auch 2010 nicht los: Nicht nur bescherten mir Japandroids das Konzert des Jahres 2010, außerdem veröffentlichten sie auch noch eine Reihe von 7″-Singles, auf denen unter anderem auch dieser Song zu finden ist, der bei mir immer wieder schier unfassbare Mengen an Gänsehaut und süßer Sehnsucht hervorruft.
2. Male Bonding – Year’s Not Long
Yeah, endlich ist Punkrock wieder zurück in der Garage, da wo er hingehört! Das Jahr ist nicht lang, und die Zeit gerade dann am schönsten, wenn sie an einem vorüberfliegt wie während den zweieinhalb Minuten dieses Songs der Londoner Newcomer Male Bonding.2
3. Tubelord – Propeller
Zu der akustischen Reizüberflutung im Song gesellt sich durch das Video auch noch eine optische dazu. Nice!
4. HEALTH – USA Boys
Wenn es eine Band schafft, mich 80er-Jahre-Soundreferenzen nicht nur tolerieren, sondern wirklich genießen zu lassen, dann ist das schon eine beachtliche Leistung. HEALTH ist dieses Kunststück mit USA Boys gelungen.
5. PTTRNS – Apocalypso
So klingt gelungene Discomusik im Jahre 2010: Die drei jungen Männer von PTTRNS aus Köln haben Prince im Herzen, New Order im heimischen Plattenschrank, Fugazi im Hinterkopf – und jede Menge Groove in Armen und Beinen. Thinking man’s dance music, aber sowas von! Außerdem erhält dieses Lied auch den Preis für die Basslinie des Jahres (eine Kategorie, die nicht unter den Tisch fallen gelassen werden sollte).
6. Hans Unstern – Endlos Endlos
Zugegeben, Hans Unsterns „Kratz Dich Raus“ ist nicht gerade ein zugängliches Album. Auch wenn gleich der zweite Song darauf mit dem Namen Endlos Endlos die schönste Ballade des Jahres ist, und daneben auch noch einige sehr kluge Zeilen enthält. Leider lässt sich zu dem Lied jedoch keinerlei vollständiges Video- oder Soundmaterial im Internet auftreiben. Da müsst ihr eben eure Fantasie bemühen oder euch die Platte zulegen.
7. Johnossi – What’s The Point
Zu diesem Refrain möchte man Herumspringen und Mitsingen, seine Freiheit feiern, zu viel Trinken und es am nächsten Tag nicht bereuen und diese ganzen anderen Späße des Lebens machen.
8. The Thermals – I Don’t Believe You
Einfach ein wunderbarer Ohrwurmsong. Powerpop wie er sein muss. The Thermals haben’s eben raus mit dem Hymnenschreiben.
9. Arcade Fire – The Suburbs
Auf Albumlänge konnten mich Arcade Fire nicht vollständig überzeugen, aber diesem Song soll ein Platz unter den besten des Jahres nicht verwehrt bleiben. Zumal auch das von Spike Jonze gedrehte Video äußerst sehenswert ist.
10. Wavves – King Of The Beach
Wieso funktioniert ein Großteil meiner Songs des Jahres eigentlich nach demselben Strickmuster aus dreckigen Punkrock-Gitarren und Pop-Harmonien? Hmm, vielleicht bin ich doch etwas durchschaubarer gestrickt als ich dachte. Ist aber auch völlig egal, dieser Song ist jedenfalls toll.
…und wenn ihr der gleichen oder einer völlig anderen Meinung seid, dann schreibt das in die Kommentare und füllt unseren Wahlzettel aus.
- bzw. aus Würzburg [↩]
- Wer homophob ist, sollte sich das folgende Video übrigens nicht ansehen. Wer homophob ist, sollte sich schämen und sich so schnell es geht von indiestreber verpissen. [↩]
Tags: Arcade Fire, Blood Red Shoes, Crystal Castles, Girl Talk, Gisbert zu Knyphausen, Hans Unstern, health, Japandroids, jeans team, johnossi, Male Bonding, No Age, PTTRNS, Slayer, Tending To Huey, The National, The Soft Pack, The Thermals, The Unwinding Hours, Trip Fontaine, Tubelord, Wavves
Da freuen wir uns, dass das Phono Pop mit dem Health Konzert auftaucht. Wobei mein highlight auf dem Phono Pop ja definitiv die Japandroids waren, aber die habt ihr ja eh schon auf der Liste.
Es gibt jetzt ein Video von Hans Unstern zu Endlos Endlos…
http://www.youtube.com/watch?v=Z7cAZyEh2o8
Super, dankeschön für den Hinweis!
wow. „verkrumpelt“ ist mein wort der woche :0)
Hans Unstern, Testsieger und Alin Coen spielen live beim diesjährigen PROSANOVA Festival (26. – 29. Mai 2011)! Freikarten für Festival und Konzert und weitere schöne Dankeschön-Pakete gibt es für Supporter der interaktiven Rauminstallation “nichts bleibt, baby” bei http://www.startnext.de/baby
Wir freuen uns auf euch!
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