Babyshambles – À Rebours (Fan-Video)
Was macht eigentlich Pete Doherty gerade? Keine Ahnung, ehrlich gesagt. Abgesehen von den regelmäßig auftauchenden „Libertines-Reunion im nächsten Jahr geplant!“-Meldungen hat man schon längere Zeit nichts mehr von ihm gehört. Immerhin scheint er noch am Leben zu sein, das ist schonmal eine erfreuliche Sache. Und glücklicherweise ist auch die Zeit vorbei, in der Doherty als drogenabhängiger und randalierender Kate Moss-Lover durch die Klatschspalten der Boulevardblätter torkelte. Wenden wir uns hier also lieber mal einem seiner Songs zu, in dem er und seine Babyshambles den Titel eines sehr einflussreichen, wenn auch wenig bekannten Werks der Literaturgeschichte aufgreifen.
Der Text des Babyshambles-Songs „À Rebours“ bleibt stets nicht ganz greifbar, aber es klingt so, als gehe es Pete Doherty in erster Linie darum, sein Gefühl der Ausgegrenzheit gegenüber der Welt zu beschreiben. Er weiß selbst nicht so genau was er will und braucht, Fürsorge oder Freigelassenwerden. Das dabei auch Frauen und Drogen zumindest implizit eine Rolle spielen, ist nicht wirklich überraschend. Hier mal ein exemplarischer Textauszug:
You ignore, adore, à rebours me
You leave me washed up begging for moreIf you really cared for me
Ah you’d let me be
You’d set me free[…]
I defy you all
You know twice as much as nothing at all
It’s still nothing at all[…]
I’ve been running round this world too much, girl
Pretending not to see
What’s thrilling me is killing me
Auch wenn er vielen Leuten vor allem als Skandalnudel bekannt ist – Pete Doherty ist ziemlich belesen und gilt insbesondere als Fan der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts, und somit ist der Name dieses Songs gewiss kein Zufall: „À Rebours“ (zu deutsch: „Gegen den Strich“) ist der Titel eines Romans von Joris-Karl Huysmans, der im Jahr 1884 erschien. In dem Buch geht es um den völlig neurotischen letzten Nachkommen einer alten Adelsfamilie mit Namen Jean Floressas Des Esseintes. Dieser verachtet die Welt und zieht sich deshalb in ein Landhaus zurück, welches er aufs Exzentrischste einrichtet, um es seinem Geschmack anzupassen.
Der Roman verzichtet beinahe komplett auf eine Handlung, Des Esseintes‘ Vorgeschichte wird in den ersten paar Seiten abgehakt, die meiste Zeit geht es dann um seine Auffassungen über das Leben, Kunst, Pflanzen, Religion und Literatur, seine verzweifelten Versuche, eine völlig künstliche und ästhetische Welt um sich herum zu kreieren – unter anderem kauft er sich dabei eine Schildkröte, deren Panzer er mit einer Goldglasur überzieht und mit Edelsteinen dekoriert, bis sie daran verendet – und schließlich um seinen gesundheitlichen Verfall.
Zwar entwickelte sich das Buch damals nicht zum Bestseller, allerdings beeinflusste Huysmans damit zahlreiche seiner Schriftstellerkollegen1 und leitete dadurch eine neuartige literarische Strömung ein: Die Dekadenzliteratur.
Während man heutzutage bei dem Begriff „Dekadenz“ hauptsächlich an geldverschwenderisches und exzessives Verhalten denkt, war die Definition am Ende des 19. Jahrhunderts vielschichtiger. Unter dem Einfluss von Charles Baudelaire, der dem Wort als erster eine positive Bedeutung zusprach, wurde das gesamte Leben unter dem Aspekt des Verfalls betrachtet. Das Ende der Zeit schien nahe am „fin de siècle“, und getrieben von einer Mischung aus Zukunftsangst und Überforderung durch die Gegenwart flüchteten sich die Künstler in dieser Zeit zuhauf in einen übersteigerten Ästhetizismus. Beinahe alle Merkmale und Motive dieser literarischen Dekadenz nahm Huysmans in „À Rebours“ vorweg, weshalb das Buch häufig als „Bibel der Dekadenz“ bezeichnet wird.
Und irgendwie waren die Dekadenzdichter auch ein bisschen so etwas wie die Hipster der damaligen Zeit. Jung, wohlhabend, gebildet und ziemlich arty hingen sie den ganzen Tag in Kaffeehäusern herum – zwar noch ohne Macbook und iPhone, aber dafür ganz stilvoll mit Pfeife und Tageszeitung. Und obwohl es gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch keine Popkultur gab, war es bereits en vogue, sich mit Dingen, die man gut findet, zu identifizieren und sich dadurch vom Rest der Welt bzw. einem großen Teil davon abzugrenzen. Dementsprechend geht es auch gleich in mehreren Kapitaln von „À Rebours“ darum, welche Literatur der Protagonist Des Esseintes super und welche er scheiße findet. Scheiße ist natürlich alles, was irgendwie Mainstream (bzw. um es literaturwissenschaftlich auszudrücken: Kanon) ist, super dagegen der ganze Kram, den kein Mensch sonst kennt und schätzt. Daran zeigt sich auch, dass die literarische Dekadenz eine extrem individualistische Bewegung war.
Doch zurück zur Musik: Die Babyshambles waren nicht die einzigen, die Huysmans‘ Roman im Jahr 2005 aufgriffen. Auch Tocotronic taten das mit dem Song „Gegen den Strich“2 auf ihrem Album „Pure Vernunft Darf Niemals Siegen“.
Tocotronic – Gegen den Strich
So wie es mir scheint, beziehen sich Tocotronic allerdings nicht direkt auf Huysmans, sondern nehmen einen Umweg über Oscar Wilde. Von dem stammt nämlich der im Song zitierte Ausspruch „Talent Borrows, Genius Steals“, und außerdem setzte Wilde „À Rebours“ in seinem Roman „The Picture Of Dorian Gray“ ein Denkmal. Dort wird das Buch schlicht „französischer Roman“ genannt, übt allerdings einen großen Einfluss auf den dekadenten Lebenswandel des Protagonisten aus.
Insbesondere fällt jedoch auf, dass bei Tocotronic die Flucht aus der Welt nicht in die Einsamkeit, sondern in die Zweisamkeit führt:
Du streichst mir über
Mein Gesicht
Gegen die Welt
Gegen den Strich
Meine Liebe
Dein Verzicht
Gegen die Welt
Gegen den Strich
Ob diese Wendung im Sinne ihrer literarischen Vorbilder wäre, das erscheint doch ziemlich fraglich. Allerdings muss man Tocotronic lassen, dass es ihnen damit sehr elegant gelingt, dem Bezug seine Tragik zu nehmen und eine romantische Ballade daraus zu stricken.
- Um mal einen musikalischen Vergleich anzuführen: Es erging ihm also in etwa so wie The Velvet Underground. [↩]
- dem deutschen Titel des Buches [↩]
Tags: Babyshambles, The Velvet Underground, Tocotronic
Pete Doherty versucht sich gerade in der Schauspielerei, passenderweise als französischer Literat: http://www.huffingtonpost.com/2010/12/13/pete-doherty_n_796100.html
Aus dem Igel-Funk erfuhr ich, dass Drogen aller Art am Set ein gern gesehenes Requisit sind.